
Die Ungewissheit fing an ihn aufzuzehren. Kam Jakob jetzt noch, war er einen anderen Weg gefahren oder hatte er sich mit anderen getroffen? Heute war der beste Tag, da Jakob Samstags sein Fußballtraining bis um fünf Uhr hatte und es auf seinem Heimweg schon dunkel war. Es gab nichts schlimmeres, als auf etwas zu warten, was man gar nicht wollte. Er sah auf seine Uhr. Fünf Uhr war das Training beendet, mit duschen, ein bisschen plaudern und dem Heimweg müsste Jakob zwischen halb sechs und sechs Uhr hier vorbeikommen.
„Mist“ murmelte er, es war jetzt schon viertel nach sechs. Er war nervös, achtete auf jedes kleinste Geräusch und schaute ständig wieder auf seine Uhr. Und immer wieder die gleichen Gedanken, war es richtig, was er hier tat? Immer wieder wog er das Für und Wider ab. „Für Jakob ist es nur ein Tag, dann ist für ihn wieder alles in Ordnung“, redete er sich ein. Er hatte nur zwei Möglichkeiten, entweder zog er das hier durch, oder er müsste dran glauben. Würden sie ihm etwas antun? Zumindest würden sie ihn nicht gerade pfleglich behandeln. Das größte Problem waren die Beweisfotos, die sie an die Polizei weitergeben wollten. Dann hatte er verloren, dann würde er mit Sicherheit ein paar Jahre sitzen. Für seine Familie würde eine Welt zusammenbrechen. Niemand wusste von den schwarzen Flecken auf seinem weißen Hemd. Mit der jetzt geplanten „Lösung“ hatte er das Ende seiner kriminellen Karriere geplant. Nie wieder wollte er etwas ungesetzliches tun. Er hatte sogar schon einen Plan, wenn er gefasst werden sollte. Wenn er das Geld hatte, würde er es an einer geheimen Stelle direkt am Übergabeort verstecken, so dass sein Chef es dort abholen konnte und er frei wäre. Eigentlich konnte er ja auch nichts dafür, er war da einfach so reingerutscht. Anfänglich war es einfach verdientes Geld gewesen, später wurde es immer schwieriger, aber auch lukrativer. Er hatte sich viele Wünsche erfüllt , die er ohne das Geld nie erfüllt bekommen hätte. Und dann war ihm diese Dummheit passiert, die ihn in diese fast ausweglose Situation gebracht hatte. Sie wollten von ihm das Geld zurück, 40000 €, die er normal nie aufbringen konnte. Der Chef hatte ihm dann die Fotos gezeigt und vor die Wahl gestellt, entweder falle ihm eine Lösung für das Problem ein, oder er müsste sich auf einige gebrochene Finger und eine Fotosendung zur Polizei einstellen. Dann hatten sie ihn zusammengeschlagen, „Kostprobe“ hatte der Chef gesagt. Er hätte eine Woche Zeit für die Lösung des Problems und solle nicht auf den Einfall kommen zu türmen, er wisse wo seine Familie wohne und werde dann seine Strafe an seine Familie weitergeben. Als er dann mit Blutergüssen im Gesicht und humpelt nach Hause gekommen war, hatte er seiner Mutter gesagt, er sei mit dem Motorrad gestürzt. Er hatte keine Wahl. Er horchte auf und sah auf seine Uhr. Fünf vor halb Sieben. Das Geräusch eines Motorrades wurde immer lauter, das war Jakob, ganz eindeutig eine KTM. Er zitterte und zog sich Handschuhe an und eine Sturmhaube über. Wieder rasten seine Gedanken. Von dem Wirtschaftsweg bog man im Wald auf die Zufahrt zu Jakobs Haus ein. Das war früher einmal ein Bauernhof gewesen, den sein Vater „mal eben“ gekauft hatte. Direkt nach der Kreuzung kam auf der Zufahrt eine Kurve, sodass man von der Straße nicht bis hierher sehen konnte. Bis zum Hof waren es bestimmt noch einmal ein Kilometer mit mehreren Kurven, von dort dürfte auch niemand etwas mitbekommen. Es war stockdunkel, optimale Bedingungen sagte er sich, um sich Mut zu machen. Das Geräusch wurde immer lauter, dann sah er einen Scheinwerfer, der durch den Wald mal zu sehen war und mal nicht. Das Motorrad wurde langsamer, und er sah hier und da einen Blinker aufleuchten. Es bog in die Straße ein und beschleunigte wieder.
Ich kann noch zurück, dachte er, ich kann einfach hier stehen bleiben und keiner sieht mich. Er war bis zum zerreißen gespannt und nahm zitternd den schweren Ast auf, den er sich im Wald gesucht hatte. Er musste den Zeitpunkt genau abpassen um nicht erkannt zu werden. Noch 30 Meter, 20, 10, 5, er nahm seinen gesamten Mut zusammen, sprang hinter dem Baum hervor, holte weit aus und schlug mit voller Wucht gegen Jakobs Brust. Wegen der Anspannung hatte er den Ast fest gepackt, die Wucht des Aufpralls riss ihn von den Füßen und den Ast aus seinen Händen. Er schrie auf vor Schmerzen, viel schlimmer aber war das Geräusch beim Aufprall des Astes auf den Körper, so etwas hatte er noch nie gehört und wollte es nie wieder hören. Er sah sich um, ihm war speiübel. Nachdem er mit dem Ast getroffen hatte, drehte der Motor noch einmal hoch, er dachte schon Jakob könne noch weiterfahren. Dann kam er ins trudeln und sein Motorrad kippte auf die Straße. Da es dunkel war, sah er wie die Funken unter dem Motorrad wegstoben als das Metall über die Straße schliff. Er schloss die Augen.
„Nein, was hab ich getan“ murmelte er. Er konnte jetzt nicht mehr zurück, oder vielleicht doch? Wenn er jetzt wegliefe, würde nie jemand erfahren, dass dies kein normaler Unfall war. Nein, jetzt war es passiert, er dachte an die Schläge und die Schmerzen, er hatte keine Wahl. Er stand auf, seine Hände schmerzten und lief vorsichtig in die Richtung, wo das Motorrad liegen musste. Der Motor war ausgegangen und er stellte es hin, damit es nicht noch mehr Kraftstoff verlor. „Möglichst wenig Spuren hinterlassen“, dachte er sich. Dann ging er weiter, langsam keimte Angst in ihm auf, hoffentlich hatte er es nicht übertrieben. „Bitte lass ihm nichts schlimmes passiert sein“, dachte er und sah einen Körper auf dem Boden liegen. Am Straßenrand lag Jakob, gekrümmt wie ein Baby und stöhnte leise vor sich hin. Er darf mich nicht sehen, nur das nicht, dann ist es aus mit mir. Er bückte sich über ihn, durfte aber nicht sprechen, da Jakob dann seine Stimme erkennen konnte. Von ihm kam keine Reaktion. Entschuldigung, Entschuldigung dachte er unendliche Male, morgen ist alles vorbei, dann kannst du wieder nach Hause. Er nahm Jakobs Hände, drehte sie auf seinen Rücken und band sie mit einem Kabelbinder zusammen. Vorsichtig nahm er seinen Helm ab, das war Jakob wie er ihn kannte, mit seinen roten Haaren und seinem hübschen Teddygesicht. Jetzt bemerkte Jakob erste Reaktionen auf seine Handlungen. Er stöhnte und schlug die Augen auf, er nahm das mitgebrachte Tuch und verband ihm die Augen. Er musste Tränen unterdrücken, Jakob, es tut mir so Leid, so unendlich Leid, aber morgen, da ist wieder alles gut.